Genre: Geistergeschichten
Autorin: Sarah Khan
Verlag: Suhrkamp
Berlin ist eine Stadt mit einer langen und wechselhaften Geschichte. Auch wenn man im Gegensatz zu altmittelalterlichen Städten auf einen relativ geringen Sagen- und Folkloreschatz zurückblicken kann, muss doch allein die Geschichte des letzten Jahrhunderts ausreichen, um Berlin mit einer ganzen Armee von Spuk- und Geistererscheinungen zu versorgen.
Das hat sich anscheinend auch die Autorin Sarah Khan gedacht und so beschloss sie, auf die Suche nach den Berliner Geistern zu gehen und ein Buch darüber zu schreiben. Und sie ist fündig geworden. Ihr Buch “Die Gespenster von Berlin“ erzählt aber nicht von putzigen enthaupteten Adelsgeschlechtern, die nächtens in Ritterrüstungen durch das Schloß Bellevue klappern (auch wenn die weiße Frau aus dem Berliner Schloß die einzige, offiziell eingetragene Geisterescheinung von Berlin sein dürfte). Sarah Khan findet eine alte Frau, die sich Mitte der Neunziger Jahre im Prenzlauer Berg auf einmal in einer chaotischen WG wiederfindet und eines Nachts auf der Toilette stürzt, weil die Mitbewohner die Waschmaschine (auf der sich die alte Dame bis dato immer aufstützte) umgeräumt haben, ohne es ihr zu sagen. Kurze Zeit später stirbt sie an den Sturzfolgen. Zum Schluss war die Alte nicht mehr ganz richtig im Kopf. Sagte immer „Putzen, Mädels, dann kriegt ihr auch einen Ehemann!“ und hatte ständig Angst vor der Stasi. Sah sie überall. Und versteckte ihr Geld eng zusammengerollt in Mauerrritzen und Möbelspalten. Nach ihrem Tod spukt es in der WG. Das Licht im Flur geht aus und aus dem ehemaligen Zimmer der alten Dame kommen Geräusche, als würde jemand Möbel verrücken (oder Geld verstecken?). Die neue Bewohnerin fühlt sich nicht wohl in dem Zimmer. Nur wenn sie zu Putzen beginnt, überkommt sie auf einmal eine tiefe Befriedigung. „Putzen, Mädels, dann kriegt ihr auch einen Ehemann!“
Die Geschichten hinter den Geistern
Es sind keine Schockeffekte, sondern die leisen Geschichten, die in den Alltag sickern. Sarah Khan erzählt in ihrem Buch vor allem von ihrer Suche, wie sie recherchiert, Leute befragt, mit einer Freundin und einem Tonbandgerät im Bethanien Geisterstimmen aufnehmen will. Dabei interessiert sie sich vor allem für die Menschen hinter dem Spuk und fördert so oft Details aus einer meist nicht allzu fernen Vergangenheit zu Tage. Von einer Klavierlehrerin, die 1945 in einem Haus in der Göhrener Straße im Prenzlauer Berg einsam verhungert. Die Menschen werden sichtbar und eine leise Traurigkeit schleicht sich in die Geschichten. Denn letztendlich steht immer hinter jeder Geistererscheinung eine tragische, oder zumindest traurig endende Lebensgeschichte. Glückliche Menschen werden nicht zu Geistern. Und so sind es vor allem die Echos dieser Menschen, die durch ihr Buch schwingen.
Sie berichtet von der Windmühle, dem Selbstmörderhaus am Alexanderplatz, wo sich jedes Jahr mindestens drei Menschen das Leben nehmen. Der Balkon im 24. Stock ist voller eingeritzter Botschaften. Von den zahlreichen Geistererscheinungen im ehemaligen Krankenhaus Bethanien, wo wahrscheinlich schon Fontane einen Geist gesehen hat. Von dem jungen Paar, welches ins Berliner Umland zieht und es fast nicht schafft, dem neuen Haus wieder zu entkommen. Welches sie niederdrückt. Wo nichts wachsen will, in einer Gegend, wo die Wälder noch voller gefallener Soldaten aus dem 2.Weltkrieg sind. Und die Erscheinung einer rauchenden Frau, die niemand sonst sieht und erst als sie beginnt, über die Geschichte des Hauses zu recherchieren, zu einer Person, zu einer Geschichte wird.
Sarah Khan erzählt im witzig charmanten Plauderton, ohne jedoch den Respekt und die schauerliche Neugier vor dem Gegenstand ihres Interesses (die Personen, die hinter den Geschichten stehen) zu verlieren. Sie zitiert E-Mails, Gespräche und berichtet von Misserfolgen. Zu einem wirklich gruseligen Lesererlebnis wird das Buch vor allem deswegen, weil die Ereignisse so eng mit der Gegenwart verknüpft sind und ihre Ursachen in der erst kürzlich vergangenen Geschichte liegen. Kein abstraktes Mittelalter, sondern Erscheinungen aus dem Hier und Jetzt, deren Geschichten in der Gegenwart traurig nachhallen und denen man sich deswegen auch nur schwer entziehen kann.
Text: A.Hartung