Die Meerjungfrau – Monster der Welt

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Hintergrundgeschichte

Merkwürdige Meereswesen mit menschlichem Aussehen sind bei weitem keine neue „Erfindung“. Zahlreiche Abbildungen bzw. Darstellungen solcher Geschöpfe reichen bis ins Altertum zurück, den Höhepunkt markierte in dieser Hinsicht das Mittelalter. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass man glaubte, „daß nichts in einigem Theil der Natur geboren, was nicht auch in dem Meer.“ – Olaus Magnus, schwedischer katholischer Geistlicher, 1490 – 1557 (von dem stammt die nachfolgende Karte „Carta Marina“, >> hier in hoher Auflösung).

Nach mittelalterlicher Ansicht gab es in den Ozeanen beispielsweise Hunde, Pferde, Schweine und Vögel, aber natürlich auch Drachen in ähnlicher Gestalt wie an Land. Die damalige Annahme, dass es also auch Meermänner und Meerfrauen (was Meerjungfrauen mit einschließt) geben müsse, erscheint insofern (fast) logisch. Darüber hinaus gab und gibt es in zahlreichen Kulturen Gottheiten mit mehr oder weniger fischähnlichem Aussehen, die allerdings meist nicht viel mit Meer- oder Seejungfrauen zu tun haben.

Das älteste Mischwesen, dass der heute verbreiteten Vorstellung einer Meerjungfrau (siehe Abschnitt „Aussehen“) weitgehend entspricht und zudem auch eine Gottheit ist, ist die semitische Göttin Atargatis. Atar’ata, wie Atargatis auf Aramäisch heißt, ist auf der Rückseite einer aus dem Jahre 95 v.Chr. stammenden Münze zu sehen, die den Seleukidenkönig Demetrios III. auf der Vorderseite zeigt. Der Fischschwanz von Atargatis ist unübersehbar. Aber wer kennt schon Atargatis (abgesehen von Dir)?

Etwas bekannter sind zumindest dem Namen nach die Sirenen, Chimären, die ihren Ursprung in der griechischen Mythologie haben und die nichtsahnende Seefahrer mit ihrem betörenden Gesang anlocken, um sie ins Verderben in Form von Riff oder Klippe ziehen. Allerdings waren die Sirenen eigentlich Todesdämonen und laut frühester Ikonographie (von ca. 650 v. Chr.) mit Harpyien und Lamien verwandte Vögel mit Menschenköpfen, gelegentlich sogar männlich und mit Bart! Erst in mittelalterlichen Bildern und Texten wurden sie als Mix aus Mensch und Fisch dargestellt. Das ist auch der wesentliche Grund, wieso „Sirenen“ heutzutage hin und wieder (fälschlicherweise) für „Meerjungfrauen“ gehalten werden. Betrachtet man die Sirenen aber großzügigerweise als todbringende Wassergeister, dann ist der Begriff „Nixe“ einigermaßen korrekt. Die mittelalterlichen Meerjungfrauen hatten – anders als die bösen Nixen – ihren dämonischen Charakter (weitgehend) verloren. Meist waren sie zwar verdammt oder seelenlos, ein Zustand, aus dem sie nur durch die Liebe und Heirat eines menschlichen Mannes errettet werden konnten. Aber im Grunde waren sie herzensgut. Ebenfalls zu den guten Wesen zählen Wasserfrauen, die hin und wieder auch als Mischwesen mit menschlichem Oberkörper und mit Schuppen bedecktem Schwanz gezeigt werden. Sie können jedoch auch die Gestalt von anderen Wassertieren haben – im Gegensatz zur Meerjungfrau.


Aussehen von Meerjungfrauen

Dieses mittelalterliche Bild ist bis heute erhalten geblieben, vor allen Dingen äußerlich, und wird heutzutage landläufig auf Meerjungfrauen und Nixen gleichermaßen angewandt. So ist es immerhin ziemlich leicht, die Fischweiber zu erkennen – zumindest, wenn man die untere Hälfte ihres Körpers sehen kann. Denn während die obere Hälfte 1:1 einer an Land lebenden, attraktiven Erdenbürgerin entspricht (abgesehen vielleicht von den meist grünen oder grün schimmernden Haaren und den nicht zwangsläufig sichtbaren Schwimmhäuten zwischen den Fingern), ist der Körper der Meeresbewohnerin vom Nabel abwärts fischartig. Statt zweier Beine hat die Nixe am Ende ihres unteren, fischähnlichen Körperteils eine markante und zur standesgemäßen Fortbewegung unverzichtbare Flosse. Diese ist klassischerweise horizontal ausgerichtet, genau wie die Fluke, die Schwanzflosse der Wale.


Heimat der Meerjungfrau

Eine richtige Heimat hat die Meerjungfrau an sich nicht. Während sich bösartige Nixen vorzugsweise in küstennahen, schwer schiffbaren Küstengebieten tummeln, kann die gute Meerjungfrau im Prinzip überall – ACHTUNG – auftauchen! Sogar am Strand von Cape Cod in Massachussets (wie beim 80er Jahre Klassiker „Splash – Eine Jungfrau am Haken“) oder am Baggersee in Buxtehude (in unserer Fantasie).


Taktik und Opfer

Ein klarer Fall von Opfer-Chauvinismus: Generell sind Männer die Opfer von Nixen, Meer- und Seejungfrauen! Während die Meerjungfrau – ob seelenlos oder nicht – jedoch meist nur das Herz eines Mannes gewinnen will, enden Begegnungen mit Nixen, insbesondere Sirenen wenn man sie mitzählt, meist tödlich: Ihr unwiderstehlicher, betörender Gesang lockt die Seefahrer an, die dann ihrerseits ihre Schiffe gegen Riffe oder Klippen steuern, Schiffbruch erleiden und untergehen. Über die genaue Reichweite der Gesangsangriffe (die ja auch immer von den geographischen Begebenheiten abhängt) ist nichts bekannt, denn wenn man die Stimmen der Sirenen erst vernimmt, ist es ja schon zu spät. Es sei denn…


Abwehr von Meerjungfrauen

…man hat einen Plan! Eine unerprobte, aber mutmaßlich sichere Variante um fies singenden Sirenen zu entgehen, ist das Zuhalten der Ohren. Leider wussten und wissen die wenigsten Fischer VORHER, dass sie sich besser gleich die Ohren zuhalten. Denn wer den Gesang hört, der kann ihm nicht widerstehen. Der wird sich nicht mehr die Ohren zuhalten, sondern lieber weiter der lieblichen Melodei lauschen und den Ursprung des Gesangs ausfindig machen wollen. Das Ohren zuhalten müsste also jemand anderes übernehmen. Von daher bietet es sich an, bei Expeditionen ins Nixen-Gebiet immer eine Person dabeizuhaben, die nichts hören kann und im Ernstfall die Hörenden mit Schallschutzkopfhören versorgt.

Wenn Du den Gesang unbedingt hören willst, dann sei Dir Homers Variante aus seiner „Odyssee“ empfohlen: Odysseus ließ sich an den Schiffsmast binden, während sich seine Schiffscrew mit Wachs die Ohren verschloss. Als Odysseus den Gesang vernahm und mit aller Kraft gegen seine Fesseln arbeitete, zog die Mannschaft die Seile sicherheitshalber noch etwas fester und fuhr soweit von der Insel der Sirenen weg, bis Odysseus wieder Herr seiner Sinne war.  Ansonsten ist es auch generell von Vorteil, eine Frau zu sein, wenn man auf Nixen trifft, denn berichtet wird ja – wie gesagt – immer nur von Männern, die ihrem Gesang anheim fallen. Der Erfolg der Abwehr von Männer jagenden Meerjungfrauen hängt hingegen allein davon ab, ob man ihrem Charme und ihrer Attraktivität widerstehen kann oder nicht.


Sonstiges

Dass es Seekühe gewesen sein könnten, die den besonders ausgeprägten, mittelalterlichen Meerjungfrauen-Mythos maßgeblich beeinflussten, weil sie nach dem Auftauchen Seetang auf dem Kopf hatten und sich anschließend so lasziv auf Meeresfelsen räkelten, dass Fischer und andere Seefahrer sie für hübsche Frauen mit Schwanzflossen gehalten haben könnten, klingt erstmal reichlich unwahrscheinlich. Auch beim zweiten darüber nachdenken. Auf der anderen Seite entsprach das Bild der wenigsten Frauen in Antike und Mittelalter dem eines typischen Playmates der Neuzeit und so mögen lange Haare (bzw. Algen auf dem Kopf, ungeachtet der Proportionen einer Seekuh) schon ausgereicht haben, um die Assoziation mit weiblicher Haarpracht herzustellen. Soll heißen: Die Fischer waren entweder einfach nur sehr leichtgläubig, hasenfüßig und kurzsichtig oder sie waren leichtgläubig, hasenfüßig und die Geschichten über böse Nixen und gute Meerjungfrauen sind wahr.

So oder so: Die guten Schilderungen hinterließen bleibenden Eindruck bei den Menschen und wurden z.B. 1837 durch das Kunstmärchen „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen oder 1989 „Arielle, die Meerjungfrau“ aus dem Hause Walt Disney enorm gepusht. Demgegenüber stehen die „echten“ Funde von Meerjungfrauen, wie etwa die 1835 von P.T. Barnum der Öffentlichkeit gezeigte Präparation eines Affenoberkörpers an einem Fischleib. Sowieso werden alle Jahre wieder mumifizierte Meerjungfrauen gefunden… vielleicht war da ja auch eine echte dabei?


Schrecklevel: 2 von 13

Wenn man jemanden Berühmtes wie Arielle zu seiner Art zählt und dieser jemand dann auch noch so unglaublich unschrecklich ist wie Arielle, dann leidet darunter natürlich auch der Schrecklevel der Artgenossen. Ok, wenn man ganz großzügig die Sirenen mit zu den Meerjungfrauen zählt, dann ist doch Fürchten angesagt. Ein Gesang, der so verführerisch ist, dass man(n) ihm nicht widerstehen kann und es einen ins Verderben zieht, das ist nicht nett. Aber wenigstens ein halbwegs schöner Tod: Im Anblick (mutmaßlich) hübscher Halbfrauen, begleitet von zauberhaft betörendem Gesang das Zeitliche zu segnen – es gibt Schlimmeres!


 

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3 Kommentare

  1. es wäre möglicherweise noch dazu zu sagen, dass die mittelalterlichen seeleute oft wochen- oder monatelang unterwegs waren, unter hitze, stürmen, eventuell auch nahrungsknappheit, definitiv unter krankheiten zu leiden und während ihrer überfahrten keine frau zu gesicht bekommen hatten und deshalb bei den seetangtragenden seekühen (deren figur ja damals noch das allgemeine ideal war) einfach an wahnvorstellungen gelitten haben. unter solchen bedingungen kann man sich sicher sowas zusammenspinnen, oder?

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