Kleinkinder traumatisieren – Ein Neujahrsbrauch in Japan

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Silvester ist in unseren Breitengraden das Beste, was sich ein Kind nur vorstellen kann: bis in die Puppen aufbleiben, Unmengen an Süßkram in sich reinstopfen, Tischfeuerwerke zünden und den ganzen Abend staunend in den Nachthimmel blicken. In Japan wird das sicher nicht anders sein, schließlich feiert man auch dort gern und das Feuerwerk ist ja sowieso eine Erfindung aus Asien. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Im Norden Japans gehört der Silvesterabend zu den denkbar schlimmsten Stunden, die sich ein Kind nur vorstellen kann. Schuld daran ist ein traditionelles Ritual namens „Namahage“, das sinngemäß soviel bedeutet wie: „Blasen vom Hintern pellen.“ Wer sich jetzt ekelt, sollte allerdings wissen, dass die japanische Sprache gern in Sinnbildern spricht und das Ganze nur übertragen gemeint ist. Wer in den Wintermonaten nämlich faul herumlungert und sich nicht bewegt, der bekommt Blasen am Allerwertesten. Dieses Ritual soll nun dafür sorgen, dass der Nachwuchs eben kein fauler Sack wird, sondern ein fleißiges Bienchen, das seinen Eltern gehorcht und sich die Blasen erst gar nicht einfängt.

Aus diesem Grund greift man zu namahage2einem Mittel, dass schon seit Jahrhunderten der Erziehung dienlich ist: Angst. Nichts treibt ein Kind mehr an, als die Aussicht, einem schrecklichen Schicksal durch fleißige Arbeit zu entgehen. Jedes Märchen funktioniert auf diese Weise, denn dort wird Faulheit und Ungehorsam meist mit einem grausamen Tod bestraft und auch Santa Claus ist eine Autoritätsperson, die unartigen Kindern schon mal einen ordentlichen Schreck einjagen kann. Das Namahage-Ritual treibt dieses zweifelhafte, erzieherische Mittel allerdings auf die Spitze. Sobald es dunkel wird, verschwindet eine Handvoll Männer in den Bergen, um nur kurze Zeit später als sogenannter „Kami“ in voller Monster-Montur wieder im Dorf aufzutauchen. Die Verkleidung besteht aus einer Dämonen-Maske, einem Anzug aus Stroh und einem fürchterlichen Schneidewerkzeug aus Holz. Dann tanzen die Bestien brüllend ums Feuer, schlagen wild auf Trommeln ein und besuchen jedes Haus, in dem ein kleines Kind lebt.


Was nun folgt, ist für uns Europäer schwer nachzuvollziehen. Stell Dir vor, Du bist 6 Jahre alt, es klopft an der Tür und dort steht plötzlich ein albtraumhaftes, gigantisches Ungeheuer, das aus vollem Hals „LEBT HIER EIN UNARTIGES KIND???“ schreit. Doch anstatt Dir Deine Eltern jetzt zur Hilfe eilen, lassen sie das Monster einfach ins Haus, wo es Dich zwei Minuten lang brüllend durch sämtliche Zimmer jagt. Wie diese Kinder in ihrem Leben jemals wieder Schlaf finden, gehört zu einem der größten Rätsel der Menschheitsgeschichte. Anschließend rät das Scheusal den verstörten Kindern, stets hart zu arbeiten und niemals zu weinen – zynischer geht’s ja wohl kaum. Sollte das Kind trotzdem aus dem Rahmen fallen, droht der Kami damit, das ungezogene Gör in die verschneiten Berge zu entführen.

scaryEtwas bedenklich ist die Tatsache, dass die Höllen-Viecher nach dieser Vorstellung von den Eltern mit einem gewaltigen Haufen Essen und vor allem Sake bestochen werden, damit sie der Familie im kommenden Jahr Gesundheit und Erfolg bescheren. Spätestens nach drei Häusern ist der Monster-Darsteller wahrscheinlich so abgefüllt, dass er nicht mal mehr blinzeln kann, soll aber in geordneten Bahnen Kleinkinder erschrecken und hinterher noch mit dem Kind Erziehungsfragen besprechen. Klappt sicher immer reibungslos. Dass die Eltern überhaupt so etwas mit ihren Kindern anstellen, ist durch die japanische Kultur bedingt. Schon seit Jahrhunderten gilt dort das Motto: „Arbeite bis zum Umfallen und dann arbeite weiter!“ Ordnung, Fleiß und Disziplin gehört dort zum höchsten Kulturgut und schon in den Kindergärten werden die Kleinen auf Leistung getrimmt. Wenn Du also im nächsten Jahr hin und wieder eine Überstunde machen musst, denke einfach daran, dass Du es nicht aus einem traumatischen Zwang heraus tun musst, sonst womöglich auf einem verschneiten Berghang von einem Dämonen gefressen zu werden.


Der Kürbiskönig wünscht ein schön gruseliges Jahr 2011!


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