Hintergrundgeschichte von Baba Jaga
Oberflächlich betrachtet könnte man die Baba Jaga (polnisch: „Baba“ = abschätziges Wort für „alte Frau“, „Jaga“ = Kurzform des Frauennamens „Jadwiga“) für die östliche Variante unserer guten alten grimmschen Märchenhexe halten: Sie ist eine hässliche, alte, zauberkundige Frau, die in einer Hütte im Wald wohnt und ab und an verirrte Reisende – insbesondere Kinder – ordentlich durchbrät und dann isst. Doch bei näherem Hinsehen ist sie eine der vielschichtigsten Mythengestalten des osteuropäischen und russischen Raums.
Anders als unsere Hexen ist die Baba Jaga, die je nach Land auch unter den Namen „Baba Zima“ und „Baba Roga“ bekannt ist, nicht einfach eine Märchenfigur. Ihre Wurzeln reichen tief in die heidnisch-slawische Mythologie zurück, und ihre Rolle ist längst nicht so eindeutig böse wie die der europäischen Märchenhexen. Vielmehr ist sie ursprünglich eine slawische Todesgöttin – demnach gehört sie eigentlich eher in eine Reihe mit Odin, Hades und Jupiter als mit dem gestiefelten Kater oder dem bösen Wolf.
Als Todesgöttin ist die Baba Jaga dafür verantwortlich, Sterbende zu verfolgen und sie „zu sich heim“ zu holen – in ihre seltsame Hütte, die auf Hühnerbeinen steht und sich unablässig tanzend dreht. In vielen Geschichten gilt sie auch als Mutter von Koschtschei dem Unsterblichen, einem hässlichen Unhold, der nicht zu töten ist, weil er seine Seele außerhalb seines Körpers aufbewahrt, und der gerne junge Frauen heimsucht. Die Baba Jaga wird häufig mit einem Besen abgebildet, doch benutzt sie diesen nicht zum Fliegen, sondern um ihre Fußspuren zu verwischen. Wenn sich das Todesweib einmal in die Lüfte erheben will, tut sie dies in einem großen Mörser, dessen Stößel sie wie ein Ruder benutzt, um ihren Flug zu lenken.
Aussehen einer Baba Jaga
Hübsch ist sie nicht, die Baba Jaga. Sie wird als spindeldürre alte Frau mit langer Nase, Spinnweben-Haaren, verkrümmten, knotigen Gliedmaßen und eisernen Zähnen beschrieben. Viele Erzählungen verlieren sich in unnötig ausführlichen Beschreibungen der spezifisch weiblichen Körperteile der Todesgöttin, die ganz besonders ekelerregend sein sollen – an dieser Stelle wollen wir nicht zu sehr ins Detail gehen. Trotz ihrer knochigen, bizarr dünnen Beine soll sie sich erschreckend schnell bewegen können, wenn es darauf ankommt.
Ein ganz besonderes Verhältnis hat die Baba Jaga zu ihrer hühnerbeinigen Hütte: Die wenigen Reisenden, die sie je unverhofft in ihrer Behausung überraschten und die Begegnung überlebten, berichten davon, dass die Alte in der Mitte des Raumes gelegen habe, während ihre Gliedmaßen sowie ihre Nase grotesk langgestreckt waren, um an den Enden mit Wänden und Decke der Hütte zu verwachsen. Demnach kann man mit einigem Recht behaupten, dass die tanzende Hütte und die Baba Jaga eigentlich ein magischer Organismus sind.
Übrigens scheint es nicht nur eine Baba Jaga zu geben. In manchen Geschichten finden Reisende auf ihren Irrwegen durch verwunschene Wälder und öde Sümpfe immer wieder düstere Orte, an denen die Hütten der Baba ihren Hühnertanz vollführen – und jede der Bewohnerinnen wird als Baba Jaga bezeichnet. Manche Geschichten nennen die diversen Versionen der Alten „Schwestern“, doch tiefere Recherchen im Archiv des Kürbiskönigs haben ergeben, dass es sich bei den Hexen jeweils um weltliche Manifestationen immer derselben slawischen Todesgöttin handelt. Wenn der christliche Gott gleichzeitig Vater, Sohn und Heiliger Geist und trotzdem eins sein kann, dann kann schließlich auch eine slawische Todesgöttin an beliebig vielen finsteren Orten gleichzeitig sein, um Reisende zu fressen!
Heimat der Baba Jaga
Wie viele alte Gottheiten ist auch die Baba Jaga fest mit besonderen, magischen Orten verbunden. Je gruseliger und einsamer, desto besser: tief in finsteren Wäldern, im Schatten zerklüfteter Schluchten oder mitten in tödlichen Sümpfen fühlen sich die Alte und ihre Hütte am Wohlsten. Zu ihrem Einzugsgebiet gehören Russland und Osteuropa. Um die tanzende Hühnerbein-Hütte herum steht ein grober Zaun aus Pfählen, auf die die Baba Jaga die Schädel ihrer Opfer spießt. Üblicherweise steht auch immer genau ein leerer Pfahl bereit – für den nächsten, der es wagt, sich der Hütte zu nähern …
Taktik und Opfer
Zum einen hat die Baba Jaga den Teilzeitjob, die Todgeweihten zu sich zu holen. Hierin kommt sie ihrer eigentlichen Aufgabe als Totengöttin nach – ähnlich wie der Sensenmann kann sie in diesen Fällen also nicht als Mörderin bezeichnet werden, denn sie ist ja eher eine Vollstreckerin des feststehenden Schicksals. Dies ist der einzige Anlass, zu dem sie ihre Hütte verlässt – meist in ihrem fliegenden Mörser, manchmal aber auch auf einem Ofen mit Hühnerbeinen reitend.
Verirrte Reisende, die durch Zufall in die Nähe der Baba Jaga-Hütte geraten, sind ein anderes Thema: Was die Alte mit solchen Menschen macht, ist ihr reines Privatvergnügen. Und hier zeigt sich die Ambivalenz der Baba Jaga. Einerseits isst sie gerne Menschenfleisch, ganz besonders das von Kindern. Andererseits sind durchaus auch Geschichten überliefert, in denen ein verzweifelter Reisender von der Hexengöttin ordentlich Proviant (nein, kein Menschenfleisch), gute Ratschläge und sogar das eine oder andere sehr wertvolle Geschenk bekam. Wie passt das zusammen?
Nun, die Baba Jaga ist im Kern launisch und voller Willkür. Manchmal ist sie gut drauf oder mag das Gesicht eines Neuankömmlings, dann ist sie hilfsbereit und liebenswürdig. Manchmal aber auch nicht – vermutlich besonders dann nicht, wenn sie Hunger hat …
Abwehr
Bei Verteidigungsmaßnahmen gegen die Baba Jaga müssen wir zwischen ihrem Job als Todesgöttin und dem Privatvergnügen des Menschenfressens unterscheiden. Im ersten Fall kann man nur sagen: „Pech gehabt!“ Wenn Du todgeweiht bist, dann bist du todgeweiht – und dann wird die Baba Jaga in ihrem fliegenden Mörser angeritten kommen und Dich mitnehmen. Punkt.
Anders sieht es bei zufälligen oder – wenn Du kühn oder dumm genug bist – bewusst herbeigeführten Begegnungen mit der Alten aus. Solltest Du Dich irgendwo in den Polnischen Wäldern verirrt haben und eine Hütte entdecken, die mit aufgespießten Totenschädeln umzäunt ist und auf Hühnerbeinen tanzt, solltest Du schnell das Weite suchen. Liegt ja auch irgendwie nahe.
Im Verlauf der Geschichte gab es aber auch immer wieder Helden und/oder Narren, die die Baba Jaga bewusst aufsuchten, um ein ansonsten unlösbares Problem zu lösen: Wer einen unwiderstehlichen Liebestrunk, eine Schatzkarte mit der genauen Lage von Atlantis oder das Geheimnis des Steins der Weisen braucht, kann sich sicher sein, dass die Baba Jaga weiterhelfen kann – wenn sie will und einen nicht auffrisst, um den Schädel danach ihrer Sammlung hinzuzufügen.
In einem solchen Fall kommt es vor allem auf Fingerspitzengefühl, Höflichkeit und ein reines Herz an. Im Herzen ist die Baba Jaga nämlich eine Dame der alten Schule: Wer über ihr abstoßendes und beängstigendes Äußeres und ihre übernatürliche Aura hinwegsehen kann und sie im Sinne der alten Schule wie eine Dame behandelt, hat gute Chancen, dass sie auf eine Mahlzeit verzichtet und stattdessen mit Vergnügen alle Wünsche ihres Gastes erfüllt. Also: Siezen, Hand küssen, artig „danke“ und „bitte“ sagen – und UM GOTTES WILLEN die Baba Jaga niemals belügen! Dann hast Du eine Chance, einen Wunsch erfüllt zu bekommen, anstatt gefressen zu werden. Viel Glück!
Schrecklevel: 9 von 13
Sie ist garstig, unberechenbar und ernährt sich von Menschenfleisch. Wer todgeweiht ist, kann ihr nichts entgegensetzen. Ziemlich fies! Aber auf der anderen Seite kann man die Baba Jaga, wenn man gesund und lebendig ist, mit guten Manieren betören – und schon hat man einen mächtigen Verbündeten. Zwiespältig, das alles! Tipp: Vor Reisen in/nach Osteuropa und Russland empfiehlt der Kürbiskönig allen Menschen, die keine gute Kinderstube genossen haben (und an ihrem Leben hängen), dringend die Lektüre des Knigge.
[…] in ihrer düsteren Skurillität oft gar nicht selber ausdenken kann. Wusstest Du, dass man die Hexe Baba Jaga aufhalten kann, indem man ihr Löffel auf den Tisch legt? Weil sie dann gar nicht anders kann, als […]